Reverse Mergers: Chancen und Herausforderungen im deutschen Marktumfeld
Um Reverse Takeovers als Mittel für private Unternehmen zum Börsengang im deutschen Kontext zu untersuchen, ist es wesentlich, die spezifischen Faktoren zu verstehen, die den IPO- und Reverse-IPO-Prozess in Deutschland beeinflussen können. Angesichts der begrenzten Literatur zu Reverse IPOs in Deutschland – was wahrscheinlich auf die Seltenheit solcher Transaktionen im Land zurückzuführen ist – befasst sich dieser Abschnitt mit den besonderen Rahmenbedingungen, die die Durchführung von Reverse IPOs in Deutschland beeinflussen könnten.
Zur Erklärung der geringen Anzahl von Reverse IPOs in Deutschland und der daraus resultierenden Literaturknappheit wurden drei Hypothesen als mögliche Ursachen formuliert: ein begrenztes Verständnis von Reverse Takeovers und Reverse IPOs, ein mangelndes Interesse von Führungskräften an dieser Methode des Börsengangs sowie spezifische Merkmale des deutschen Marktes, die solche Transaktionen erschweren könnten. Diese Hypothesen werden in der vorliegenden Studie weiter untersucht.
Um den potenziellen Einfluss dieser marktspezifischen Gegebenheiten auf das Auftreten von Reverse IPOs zu analysieren, konzentriert sich dieser Abschnitt auf die Börsengangspraxis in Deutschland, vor allem im Rahmen einer Literaturauswertung. Die wichtigsten Quellen für das Verständnis des Going-Public-Prozesses in Deutschland sind Konrad Bösls „Praxis des Börsengangs“ [Bösl, 2004] und die „IPO-Box“ von [Anders et al., 2009], auf die in dieser Analyse wiederholt Bezug genommen wird. Diese Werke waren für diese Untersuchung von besonderer Bedeutung, da einschlägige Literatur zu diesem speziellen Thema nur spärlich vorhanden war.
Da beide Werke auf Deutsch verfasst wurden und keine offiziellen englischen Übersetzungen vorliegen, wurden sie für die Vorbereitung der folgenden Analyse ins Englische übersetzt. Es ist zu beachten, dass dabei kleinere Fehler durch mögliche Übersetzungsungenauigkeiten der Originaltexte auftreten können.
[Anders et al., 2009] heben hervor, dass der deutsche Aktienmarkt im Jahr 2007 mit einer Marktkapitalisierung inländischer Unternehmen von 2.100 Milliarden US-Dollar zu den größten der Welt zählte. Dennoch besteht im internationalen Vergleich noch erhebliches Wachstumspotenzial. Dies zeigt sich insbesondere bei der Gegenüberstellung von Marktkapitalisierung und Bruttoinlandsprodukt: Der Anteil lag 2007 lediglich bei 63,5 % und damit hinter anderen Volkswirtschaften zurück. Eine Ursache hierfür ist die traditionelle Abhängigkeit deutscher Unternehmen von Bankkrediten als primäre Finanzierungsquelle. Dieses Bild hat sich in den letzten Jahren jedoch deutlich gewandelt. Deutschland ist mittlerweile stärker kapitalmarktorientiert – hinsichtlich verfügbarer Finanzierungsinstrumente, der Einstellungen der Marktteilnehmer und des rechtlichen Rahmens.
Bereits zuvor hatte auch [Bösl, 2004] ein unterentwickeltes Umfeld für die Eigenkapitalbeschaffung beschrieben. Seiner Einschätzung nach beklagen deutsche Unternehmen seit geraumer Zeit eine sogenannte „Eigenkapitallücke“. Angesichts dynamischen Wachstums stoßen viele Unternehmer mit ihrer Eigenfinanzierungskraft an Grenzen. Zudem erschwert eine schmale Eigenkapitalbasis die Aufnahme von Fremdkapital und verteuert diese. Zwar ist die Einbindung unternehmerischer Partner oder Venture-Capital-Geber grundsätzlich möglich, jedoch geht sie immer mit einem Verlust unternehmerischer Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit einher.
Diese unerwünschte Einschränkung der unternehmerischen Autonomie stellt laut dem Autor einen wesentlichen Grund dar, warum viele Unternehmen vom Börsengang absehen – was die Ergebnisse dieser Arbeit stützt. Wie bereits diskutiert, kann ein Reverse Takeover eine wertvolle Alternative zum klassischen Börsengang darstellen, da hiermit ein geringerer Kontrollverlust einhergeht. Dieses Merkmal macht Reverse IPOs besonders attraktiv für Führungskräfte, die auch nach dem Going Public die Kontrolle über ihr Unternehmen behalten wollen – ein Vorteil, der in dieser Arbeit als zentrales Merkmal des Reverse IPOs gegenüber dem traditionellen Börsengang identifiziert wurde.
[Bösl, 2004] betont darüber hinaus die Bedeutung des Eigenkapitals für die Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens an sich ständig verändernde Umweltbedingungen. Eigenkapital ist entscheidend für die langfristige Kontinuität und Unabhängigkeit eines Unternehmens – insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, da die Krisenfestigkeit eines Unternehmens maßgeblich von seiner Eigenkapitalbasis abhängt. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass ein Börsengang ein ideales Mittel zur Eigenkapitalbeschaffung darstellt und die notwendige finanzielle Flexibilität schafft, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen.
[Bösl, 2004] hebt zudem die Vorteile eines Börsengangs für die Belegschaft hervor – im Einklang mit den Ergebnissen dieser Arbeit in einem früheren Abschnitt. Seiner Ansicht nach sind börsennotierte Unternehmen besonders attraktiv für Mitarbeitende und qualifizierte Führungskräfte, nicht zuletzt aufgrund ihres besseren Unternehmensimages und der erleichterten Möglichkeit zur Mitarbeiterbeteiligung. Aktienoptionen und Mitarbeiteraktien gewinnen in Deutschland zunehmend an Bedeutung, wenn es darum geht, Schlüsselkräfte zu gewinnen und zu binden. Darüber hinaus wird die Beteiligung von Mitarbeitern durch das Vermögensbildungsgesetz – wenn auch mit begrenzten steuerlichen Anreizen – gefördert, was einen zusätzlichen Anreiz für den Börsengang von Unternehmen in Deutschland darstellt.